Gerd Bingemann ist Musiker und Komponist, blind und hörbehindert. Im fadegrad-Podcast erzählt er von seinem Leben, seiner Musik und seinem Glauben.
Bingemann war nicht sein ganzes Leben lang blind. Durch eine Macula-Degeneration erblindete er langsam, über viele Jahre hinweg.
In der Primarschule merkte er erstmals, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmte: «Ich konnte von der Schulbank aus nicht mehr erkennen, was an der Wandtafel stand. Als ich von meinem Sitznachbarn abschreiben wollte, war ich erstaunt, dass spicken auch nicht mehr möglich war», erzählt er im fadegrad-Podcast.
Ich vermisse das Velofahren, Menschen zu erkennen und einen lieben Blick von meiner Frau.“
Gerd Bingemann, erblindete aufgrund einer Netzhaut-Erkrankung
Es war ein langsames Loslassen: den Blick seiner Frau nicht mehr sehen zu können, Hell-Dunkel nicht mehr unterscheiden zu können, aus Sicherheitsgründen nicht mehr Velo fahren zu können. Heute legt Gerd Bingemann nur mehr drei Wege völlig selbständig zurück.
Der 62-jährige wirkt jedoch alles andere als verbittert: Halt und Hoffnung findet er in der Musik, seiner Frau und seinem Glauben. «Meine Frau, die Malerin ist, hat mir eine andere Weise des Sehens beigebracht. Ich als Musiker habe dafür ihre Wahrnehmung für das Hören geschärft», erzählt er im fadegrad-Podcast.
2021 musste der Jurist, der bis dahin bei SZBLIND, dem Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen, gearbeitet hatte, seinen Beruf aufgeben: Als zur Erblindung eine Hörbehinderung hinzu kam, liess er sich frühpensionieren. Ein Leben ohne Musik könnte er sich jedoch nicht vorstellen:
Ohne Musik würde mir eine Sprache fehlen, mit der ich meinen Frust, meine Freude und meine Dankbarkeit ausdrücken kann.
Gerd Bingemann, Musiker und Komponist
Warum passiert das mir?
Gerd Bingemann bezeichnet sich selbst als gläubige Person. Der Glaube an Gott fliesst auch in seine Kompositionen ein. Ein Stück auf seiner Piano-CD «Wide Rooms I» heisst «Tanz auf dem Wasser». Damit meint Gerd Bingemann «einen Glaubensschritt auf die Unwegsamkeiten des Lebens hin, den ich jeden Tag neu machen muss». Mit Blick auf die biblische Erzählung von Petrus, der auf dem Wasser geht, sagt Gerd Bingemann: «Ich habe die romantische Vorstellung, dass Gott über diese Unwegsamkeiten hinweg mit mir tanzt».
Mehr über seinen Glauben und die Glaubenskrise erzählt Gerd Bingemann im fadegrad-Podcast.
08:08 Hörbehinderung
15:48 Hilfsmittel für Blinde
18:11 Je schlechter die Sehkraft, desto besser die anderen Sinne?
23:46 Tanz auf dem Wasser
26:08 Heilungsgeschichten in der Bibel
27:44 Warum passiert das mir?
30:40 Verlosung
31:17 Was sich Gerd Bingemann von der Gesellschaft wünscht
33:17 Verabschiedung und Ausblick
Von der Gesellschaft wünscht Gerd Bingemann sich mehr Normalität im Umgang mit blinden oder sehbehinderten Menschen.
Am meisten stört mich, wenn man uns blinde Menschen nicht ernst nimmt. Wenn man uns beispielsweise nicht begrüsst, sondern am Arm packt und über eine Strasse zerrt, über die wir gar nicht wollen.
Gerd Bingemann, blind
Er rät dazu, einen blinden Menschen anzusprechen, und zu fragen, ob man helfen könne. So könne ein Kontakt entstehen – und meist ergäben sich dann interessante Gespräche, so Gerd Bingemann.
Ich bin Ines, Journalistin, Religionspädagogin und Theologin. Ich liebe Wiener Kaffeehäuser, Schweizer Bergseen und Fragen stellen. Ich komme aus Niederösterreich, lebe aber seit Anfang 2020 in St.Gallen.